Die kritische Lage bei den Lieferketten wird sich noch bis mindestens Mitte 2023 hinziehen, meinen die Experten der Bundesvereinigung Logistik (BVL). Und es wird erst mal noch schlimmer werden, bevor es besser wird.
Der Vorstand der Bundesvereinigung Logistik (BVL) vertritt inzwischen die Auffassung, dass die bisherigen Prognosen in Bezug auf Lieferketten und bei der Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten zu optimistisch sind. „Die Zahl der Schiffe, die vor Shanghai auf die Entladung waren, hat eine ganz neue Dimension. Allein das wird die Wirtschaft massiv belasten“, stellt Dorothea von Boxberg, Vorstandsvorsitzende von Lufthansa Cargo fest. Auch Josip T. Tomasevic, Senior Vice President bei der AGCO Corporation, erklärt: „Da kommt noch eine Welle auf uns zu. Selbst optimistisch gesehen werden die Probleme bis mindestens Mitte 2023 andauern.“ Die Lieferketten könne man zurzeit nicht kontrollieren. Die Dimension sei riesig und werde zu Verzögerungen führen, die wir so noch nicht kennen“, ergänzte Tim Scharwath, CEO DHL Global Forwarding Freight, bei der Sitzung der Bundesvereinigung Logistik (BVL) Anfang Mai.
BVL-Marktexperte Prof. Dr. Christian Kille verglich den Effekt mit einem Stau auf der Autobahn: „Selbst wenn der Schiffsstau vor Schanghai sich auflöst und die meisten Fabriken in China aus dem Lockdown gehen, wird es viele Monate dauern, bis sich die Lieferketten normalisieren. Das ist wie bei einem Stau auf der Autobahn, der sich weiterverbreitet und sich aufschaukelt, obwohl der eigentliche Grund für den Stau sich längst aufgelöst hat.“ Bis die Hinterlandverkehre wieder funktionieren würden und die Leercontainer den Weg zur nächsten Beladung gefunden hätten, würden Monate vergehen.
Das Beispiel USA zeige laut Kille, dass das Nadelöhr einfach auf die Landseite wandert. „Zwar sind irgendwann die Schiffe leer, aber die Hafenflächen voll. Der Schiffsstau wird sich zudem zunächst auf die europäischen Häfen verlagern, weil diese den Ansturm nach der Pause nicht bewältigen können.“ Die Verzögerungen durch den Stau im Suezkanal durch die Evergiven und die kurzzeitig wegen Corona geschlossenen Terminals in China im Frühjahr und Mitte 2021 konnten nach Zahlen des Kiel Trade Indicator wohl bis heute nicht vollständig aufgelöst werden.
Als größte aktuelle Gefahr bezeichneten Teilnehmer der Diskussion die Energiekrise und die Rohstoffknappheit. „Es gibt derzeit zwei Standortnachteile für Europa: Den Krieg und die Energie“, erklärt der Senior Vice President bei der AGCO Corporationo Josip Tomasevic. Eine „wirtschaftliche Vollbremsung“ beobachtet Stephan Wohler, Vorstand bei Edeka Minden-Hannover, dabei für den Lebensmittelbereich. Nach einem guten 2021 führten die rasant steigenden Preise zu Nervosität bei den Verbrauchern und eine Konzentration auf Preiseinstiegsprodukte statt auf bekannte Marken.
Fahren auf Sicht
Gleichzeitig würden viele Unternehmen aufgrund des Mangels an Vorprodukten und Rohstoffen sowie wegen der hohen Energiekosten wieder in Kurzarbeit gehen müssen. „Die Einschätzungen unserer Vorstandsmitglieder aus Industrie, Handel und Logistikdienstleistung gehen deutlich über die bisher veröffentlichten Prognosen hinaus. Bevor wir vielleicht irgendwann in 2023 eine Besserung erwarten können, wird die Situation bei den Lieferketten und Rohstoffen in den nächsten Monaten deutlich schlimmer werden. Darauf müssen sich Unternehmen wie Verbraucher einstellen“, prognostiziert der BVL-Vorstandsvorsitzende Prof. Thomas Wimmer.
Nicht alle Unternehmen seinen allerdings gleichermaßen betroffen. „Wenn Unternehmen frühzeitig ihr Risikomanagement angepasst und zusätzliche oder alternative Lieferanten erschlossen haben, wenn die Beziehungen zu Reedereien und Speditionen langfristig gepflegt wurden und so noch Kapazitäten verfügbar waren, sind sie weniger stark betroffen. Aber letztendlich fahren alle zurzeit nur auf Sicht“, so Wimmer. Auch deshalb müsse sich für die Zukunft die Haltung vieler Unternehmen ändern, meint BVL-Marktexperte Kille: „Unabhängigkeit wird wichtiger, auch Flexibilität und Zuverlässigkeit – und das kostet mehr.
Wenn Unternehmen unabhängiger und autarker agieren sollen, sind Investitionen und Partnerschaften mit anderen in der Nähe notwendig, auch in bisher vernachlässigten Regionen.“ Außerdem würden kürzere Strecken zum Beispiel auch auf den Weg zur Klimaneutralität einzahlen und zudem künftig eine leichter umsetzbare Kreislaufwirtschaft ermöglichen.
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